...im Grunde geht es nur um diese eine Szene. Sie ist weder besonders, noch anspruchsvoll. Auch eine Handlung ist ihr verwehrt. Genau genommen existiert sie nicht einmal. Nur ist sie von Zeit zu zeit eben wieder da, alleine und verborgen vor den Blicken Fremder. Und das Problem an ihr ist, dass sie eine einzige ist, es gibt keine davor und keine danach. Alle Versuche die ich unternommen hatte sie fortzuführen, endeten in einer Enttäuschung. Ich denke es wird einen Grund haben, dass es immer an der selben Stelle beginnt, aber nie weiterführt. Und ich weiß auch nicht, ob ich wirklich wissen möchte, was danach passiert. Immerhin wäre dann der Zauber dieser einen Szene dahin und ich müsste einsehen, dass eigentlich gar nichts so ist wie es offensichtlich erscheint oder dass jedwede Vorstellung der Umgebung in der weiteren Handlung gar nicht tragbar wäre - und somit sie Szene selbst auch nicht. Die Szene spielt nicht an einem konkreten Ort, könnte aber gut in der Welt von Sherlock Holmes oder Claude Frollo Platz finden. Es ist eine enge Gasse, Kopfsteinpflaster. Ich weiß weder wo sie beginnt, noch wo sie enden wird. Linker Hand befindet sich eine sandsteinernde Häuserwand mit vergitterten Fenstern. Ein mächtiger Bau, ungewöhnlich für die Gegend. Die weiter entfernt liegenden Häuser entsprechen schon eher dem gängigen Stil der Umgebung - windschiefe Fachwerkhäuser. Die Fassaden der gegenüberliegenden Häuser verbergen sich im Dunkel der Nacht. Nur die Silhouette der Giebel lässt die Form einiger Häuser erahnen. Aber auf dieser dunklen Seite liegt nicht der Fokus der Szene und jeder Versuch sie sich genauer vorzustellen, würde wieder das Besondere der Situation zerstören. Wenn sie mir in einem Jahr erneut erscheint, dann befindet sich in dem Dunkel vielleicht keine Häuserwand, sondern ein Park oder ein Brunnen, aber die vergitterten Fenster zu meiner Linken bleiben. Der Mond ist nicht zu sehen, er muss aber gleich hinter den Giebeln verborgen sein, denn er spiegelt sich in den vergitterten Fenstern. Dadurch wird die Gasse auf dieser Seite in ein schwaches diffuses Licht getränkt. Nicht sehr hell, aber zumindest so, dass die Umrisse der Pflastersteine zu erkennen sind.

Dazu ist es kalt - verdammt kalt. Und die Luft ist von einer Art, gegen die man sich nicht richtig mit einem dicken Mantel schützen kann. Die Feuchte in ihr entspricht in etwa der an einem See nachts. Und stünde man nun dort, so würde man frieren bis aufs Mark. Weiter hinten verschwindet die Gasse in Wolken feuchten Nebels. Sie ziehen ganz langsam vorbei und wenn sie von Zeit zu Zeit etwas weniger dicht sind, so sieht man dahinter nur die Finsternis der Nacht. Und abgesehen von dem in der Ferne verklingenden Poltern und Rasseln eines Fuhrwerkes ist nur das Plätschern von Tropfen wahrzunehmen, welche ab und an den Weg von den Dächern in die Gasse finden.

Und obwohl es so ruhig ist und man vermeintlich ganz alleine ist, so befinden sich doch zwei Personen in dieser Szene. Geräusche gehen von ihnen allerdings keine aus. Vor mir steht ein großer Mann. Da er mir jedoch den Rücken zuwendet, kann ich ihn nicht erkennen. Auch kann ich nicht das Profil seines Kopfes ausmachen, denn unter seinem Zylinder wellt sich in dem Mondlicht weiß wirkendes Haar über seine Schultern. Es ist nicht sehr dicht, aber ich bin nicht in der Lage, zwischen den einzelnen Strähnen hindurch seine Wange oder wenigstens ein Ohr zu erblicken. Sein einziger Schutz gegen die Kälte ist sein Gehrock. Ob der Dunkelheit kann man eigentlich keine Details erkennen, doch ich weiß, dass es ein sehr eleganter und vor allem absolut knitterfreier ist. Ich habe mir nie Gedanken gemacht wieso er einen knitterfreien Gehrock trägt, aber immer, wenn mir der Mann in der Szene bewusst wird, so weiß ich, dass er absolut knitterfrei ist. Seine rechte Hand ruht auf dem silbernen Knauf seines Stockes. Zwar befindet sich das obere Ende des Stockes in der nächtlichen Dunkelheit, doch bilde ich mir ein, das eine oder andere mal ein leichtes blinkern von reflektiertem Mondlicht unter seiner Hand wahrnehmen zu können. Er steht völlig reglos vor mir und man könnte annehmen, dass er nur ein Statist zur Komplettierung der Szene wäre, wenn nicht mit jedem seiner Atemzüge eine Kondenswolke von ihm in die Nacht entlassen werden würde. Die Wolken kommen lautlos und regelmäßig, alle paar Sekunden eine neue. hhhhhhh hhhhhhh hhhhhhh. Erstaunlich ist, dass sich dabei sein Brustkorb weder hebt, noch senkt. Da ich hinter ihm stehe, kann ich nicht sehen was für Züge sein Gesicht hat, ob sein Mund schmal, die Nase krumm ist. Aber ich weiß genau worauf seine Augen gerichtet sind. Vor ihm liegt eine Frau im halbdunkel und sie trägt nichts anderes als ein leichtes helles Kleid. Sie hat rote Haare.

Und mehr? Mehr nicht, nicht viel. Genau wie es keinen Weg zu dieser Szene gibt, so gibt es auch keinen von ihr. Und genauso wenig wie es in der Szene um den Ort oder die Zeit geht, genauso wenig ist es wichtig was in ihr passiert. Es ist eben nur diese eine Szene.

Und doch ist noch zu erkennen, dass die Rillen zwischen den Pflastersteinen unter ihr gefüllt sind mit Blut. Ihrem Blut, welches sich einen Weg zwischen den durch die tägliche Tortur der Pferdefuhrwerke verzogenen Steine bahnt. Und das Blut erscheint in dem kalten Mondlicht in einer tiefroten Farbe mit einem Hauch eisigem Glanz. Der Fluss, der einmal ihr Leben war, teilt sich ab und an auf, um sich kurz darauf mit einem anderen Arm zu vereinen. Später wird er dann versickern oder, möglich wäre es, als gefrorenes Mahnmal dieser Szene der Nachwelt erhalten bleiben.

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von kaasy